Egon Krenz, letzter Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), hält einen Vortrag auf dem 7. World Socialist Forum 2016 in China.

Egon Krenz, letzter Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), hält einen Vortrag auf dem 7. World Socialist Forum 2016 in China.

Ich gebe das Ideal des Sozialismus nicht auf. Die Idee des Sozialismus ist genauso schlecht totzukriegen wie die Idee des Christentums

Egon Krenz, China – Wie ich es sehe ; Édition Ost 2018

Übersetzt von mir (M.A.) und Professor Siegfried Prokop. Original französische Version: http://a-contre-air-du-temps.over-blog.com/2018/10/la-chine-comme-je-la-vois.html

Par Michel AYMERICH

 

Am 1. Oktober 1989 leitete Egon Krenz anlässlich des 40. Jahrestages der Volksrepublik China (VRCh) die offizielle Delegation der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 40 Jahre zuvor, am 1. Oktober 1949, wurde die Volksrepublik China ausgerufen.

Mao Zedong verkündet am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik China!

 

Zurückgekehrt in der DDR sprach Krenz zu seinen Genossen folgende Worte: „Ich danke, dass ich diese Delegation leiten durfte. Ich bin sehr begeistert von dem, was ich in China sehen konnte. Alle meine Gespräche mit den führenden Leuten der Volksrepublik China waren positiv“. Erinnert sich Erich Honecker 1990 [1], als die DDR, Opfer des Anschlusses durch die BRD [2], wurde ...

 

Egon Krenz empfangen von Deng Xiaoping in Oktober 1989

27 Jahre später, im Oktober 2017, findet der 19. Kongress der Kommunistischen Partei Chinas statt.

 

Genau ein Jahrhundert nach der russischen sozialistischen Revolution im Oktober 1917. Xi Jinping: sagt dazu: Vor hundert Jahren brachten die Salven der Oktoberrevolution China den Marxismus-Leninismus. Führende Elemente in China haben durch die wissenschaftliche Wahrheit des Marxismus-Leninismus den Schlüssel zur Lösung chinesischer Probleme entdeckt. [3]“

 

Auf dem 19. Kongress ist Egon Krenz wieder in Peking präsent. Die Volksrepublik China ist stärker als je zuvor. Sie ist zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt geworden und wird wahrscheinlich in 10 oder 15 Jahren die erste sein.

 

Aus seinen politischen Reisen in dieser Republik mit 56 Nationalitäten, so groß wie ein Kontinent, schrieb er China - Wie ich es sehe, Gegenstand des Interviews ist, das Sputnik auf Deutsch geführt hat und das ich unten teile.

 

In diesem Buch, das ich buchstäblich verschlungen habe und das unverzüglich eine Übersetzung ins Französische verdient, habe ich die vollständige Bestätigung meiner eigenen Analyse der Volksrepublik China und der wirklichen Politik der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) gelesen. Meine eigene Analyse, zu der ich nach meinen Reisen in China und vielen aktuellen und vergangenen Lesungen erreichte, einschließlich folgendes : Entschließung zu einigen Fragen in der Geschichte unserer Partei seit der Gründung der Volksrepublik (1949-1981). (Erschienen am 6. Juli 1981) Rückblick auf die Geschichte der 28 Jahre, die der Gründung der Volksrepublik vorausgingen.

 

Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) behielt ihre kommunistische Linie (marxistisch- leninistische) bei. In der Tat ohne Theater und ohne pseudo-revolutionäre Geschwätz, im Gegensatz zum Linksradikalismus im Sinne Lenins Definition in seinem Buch, dessen Titel spricht allein: Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.

 

Egon Krenz weist in seinem Buch darauf hin, was im Westen und denke ich manchmal auch bei manchen Bürgern in China selbst oft nicht verstanden wird : Bei der Beurteilung des Sozialismus chinesischer Prägung gibt es nach meiner Beobachtung ein fundamentales Missverständnis. Die Tatsache das China ein sozialistisches Land ist, bedeutet keineswegs das China schon den Sozialismus hat. Der sozialistische Staat ist die politische Grundlage dafür, dass die neue Gesellschaftsordnung überhaupt gestaltet werden kann. Das Land befindet sich derzeit und auch noch lange Zeit im Anfangsstadium des Sozialismus, erklärte der Generalsekretär. Diese Gegebenheit des Landes bleibe ebenso unverändert wie seine « internationale Stellung als das weltweit grösste Entwicklungsland. [4]“

 

Ich kenne Egon Krenz seit Anfang der 90er Jahre, während wir im Rahmen der Alternativen Enquête-Kommission deutsche Zeitgeschichte unter dem Vorsitz unseres verstorbenen Freundes und Genossen, des Philosophen Wolfgang Harich, jeweils einen Beitrag veröffentlichten in Die kurze Zeit der Utopie, ein Sammelband von fünfzehn Autoren herausgegeben von Professor Siegfried Prokop.

Présentation de Die kurze Zeit der Utopie in Berlin. Von links nach rechts, Michel Aymerich, Egon Krenz, Dr. Gabriele Lindner, Prof. Siegfried Prokop, Dr. Carola Wuttke.

 

Die Alternative Enquête-Kommission deutsche Zeitgeschichte versuchte eine ausgewogenere historische Darstellung der deutschen Zeitgeschichte im Gegensatz zu der Bundestagskommission, die die Geschichte für antikommunistische Zwecke ausnutzte. Ein sehr praktisches Ziel bestand darin, den Widerstand gegen eine schnelle Währungsunion zu brechen, ostdeutschen Unternehmen keine Chance zu lassen und großen westdeutschen Konzernen Platz zu machen ... [7]

 

Ich habe großen Respekt vor diesem Mann, Egon Krenz, den die Klassenjustiz zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hat. Recht hatte Helmut Schmidt, der ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, mit der Feststellung: „Was die Kommunisten nach 1990 anbelangt, so haben wir uns auf eine viel schlechtere Art und Weise verhalten als in der frühen Zeit der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den ehemaligen Nazis [8]“.

 

Nachdenkend über die Erfolge der Kommunisten Chinas, Egon Krenz übt Selbstkritik: „Marx, Engels und Lenin sind nicht schuld daran, dass es den europaïschen Sozialismus nicht mehr gibt. Eher waren Leute wie ich, die grosse Verantwortung trugen, Schuld daran, dass der Marxismus-Leninismus bei uns zu oft nur ein Dogma blieb. [9]“

Egon Krenz empfängt am 17. Februar 1987 in Berlin im Auftrag von Erich Honecker und dies gegen den Willen von Moskau (Gorbatschow) eine Delegation der Organisation der Kommunistischen Jugend von China, angeführt zu dem Zeitpunkt von seinem Ersten Sekretär, Song Defu... Foto und Text: Zum Kampf der deutschen Arbeiterklasse zur Verteidigung und Unterstützung der Revolution in China, Dietz Verlag, Berlin 1989, p. 256.

Er darf die Selbstkritik ausüben, weil er mit Recht von seinem Ideal belebt wird. In dem Interview, das Gegenstand des Artikels ist, das ich unten teile, drückt er seine Weltanschauung aus:

Ich gebe das Ideal des Sozialismus nicht auf. Die Idee des Sozialismus ist genauso schlecht totzukriegen wie die Idee des Christentums, die ja nun über 2000 Jahre alt ist und trotzdem immer wieder lebendig wird, obwohl es Kämpfe gegeben hat und obwohl es auch Verbrechen gegeben hat. Aber die Ideale der Menschen sind eben stark. Ich glaube, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern dass der Sozialismus eine Chance hat. Wann und wie – das ist eine ganz andere Sache.“

 

Egon Krenz zeigt damit seine Treue zum Ideal des Sozialismus, der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft. In diesem Sinne stimmt er mit deutschen und chinesischen Kameraden überein, die die gleiche Weltanschauung teilen.

Werner Eberlein [10] (Sohn von Hugo Eberlein, Mitbegründer der
Kommunistischen Partei Deutschlands und Kampfgefährte von Rosa Luxemburg...), der auch Mitglied des Politbüros (PB) der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), schrieb im Jahr 1994 nach der Annexion der DDR: „Ich bin mit kommunistischer ‚Erbmasse‘ zur Welt gekommen und bin dieser Idee treu geblieben, über Höhen und durch viele Tiefen. Ich weiss nicht, wieviel Jahre Leben mir noch vergönnt sind, ich weiss nicht, welche Hürden noch auf mich warten, aber ich weiss mit Sicherheit, dass ich dieser Sache treu bleiben werde! [11] “

 

Was das Ideal der chinesischen Kommunisten betrifft, in erster Linie ihr Führer, schreibt François Bougon:

 

Xi Jinpings historisches Universum ist von Helden bevölkert. Von denen, die das Regime seit 1949 trägt, all die Männer und Frauen, die am Langen Marsch teilnahmen und für das Aufkommen des Kommunismus kämpften. [...] Die erste Generation, die von diesen glorreichen Legenden geführt wurde, ist die von Xi. Und er persönlich kann sich dieser Bewunderung auf zwei Arten widmen, denn sein Vater, Xi Zhongxun, war einer dieser Helden, ein Begleiter von Mao: Noch immer ein Jugendlicher in den Reihen der Guerillas im Nordwesten des Landes, trat er der Vorhut der Revolution bei. [12]“

Die Zeiten, in denen westliche Imperialisten und der japanische Imperialismus China teilten, sind vorbei ... Egon Krenz weist auf den Seiten 34-35 (Kindle Version) seines Buches darauf hin, dass nicht vergessen werden sollte, dass es vor mehr als einem Jahrhundert « einen deutschen Schießbefehl gegen Chinesen gab“ und erinnert damit an die sogenannte "Hunnenrede" des Kaisers Wilhelm II. vom 27. Juli 1900. Rede, in der der Kaiser sagte: „Wie vor tausend Jahren die Hunnen [...], so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“

Die Antikommunisten proklamierten überall, laut und deutlich, dass der Kommunismus tot ist. Dabei haben sie verschmolzen durch eine ideologische Trickserei Gesellschaften, die noch nicht kommunistisch war und nicht einmal behauptete, es zu sein und kommunistische BEWEGUNG. Die Führer dieser Gesellschaften behaupteten dagegen fälschlicherweise, den Sozialismus bereits aufgebaut zu haben...

 

Ein grober Fehler und eine Lüge, an die die Zauberer schließlich glauben, die über die Existenz der Volksrepublik China als sozialistischer Staat - angeführt von einer kommunistischen Partei - und die tatsächliche Entwicklung des Landes, nicht in Richtung Wiederherstellung des Kapitalismus, sondern in Richtung Sozialismus, wird im Westen geschwiegen, darüber herrscht Sprachlosigkeit.

 

Fehler, ursprünglich motiviert durch die Ziele der Gedankenmanipulation und Neutralisierung der in der Welt geführten Kämpfe, um den Kapitalismus durch den sozialistischen Weg zu ersetzen.

 

Der chilenische Dichter Pablo Neruda hatte diese richtigen Worte gefunden, um den Geist des Antikommunismus zu charakterisieren:

 

VERSCHLIESST GUT DIE TÜR!

 

Die Kommunisten sind eine gute Familie ... Sie haben ein dickes Fell und ein gestähltes Herz ... Überall beziehen sie Prügel... Nur sie beziehen Prügel... Es leben die Spiritualisten, die Monarchisten, die Abweichler, die Verbrecher verschiedener Grade … Es lebe die Philosophie des Rauchs ohne Gerüst ... Es lebe der Hund, der bellt und beißt, es leben die lüsternen Astrologen, es lebe die Pornographie, es lebe der Zynismus, es lebe der Heuchler, es lebe die ganze Welt, nur nicht die Kommunisten... es lebe die Keuschheit-gürtel, es leben die Konservativen, die sich seit fünf Jahrhunderten nicht ihre ideologischen Füße gewaschen haben... es leben die Läuse der armen Bevölkerungen, es lebe das kostenlose Massengrab, es lebe der Anarchokapitalismus, [...] es lebe jeder Mystizismus ... All das ist gut ... Alle sind heldenhaft ... Alle Zeitungen müssen erscheinen.., Alle dürfen veröffentlicht werden, nur nicht die Kommunistischen ... [...]. Es lebe der Karneval, die letzten Tage des Karneval ... Es gibt Masken für alle ... Masken für den christlichen Idealisten, Masken der äußersten Linken, Masken der wohltuenden Damen und der wohltätigen Matronen… Doch Vorsicht! Laßt nicht die Kommunisten ein… Verschließt gut die Tür … [13]“

Der antikommunistische Bourgeois und seine nützlichen Idioten sagen: „Verbirg diese Zahlen, die wir nicht sehen können!“

 

 

Die riesige Volksrepublik China (VR China) mit ihrer 1 Milliarde und 380 Millionen Einwohnern hat im Kampf gegen die Armut spektakuläre Erfolge erzielt und erinnert daran, dass sie ihr historisches Ziel beibehält: den geduldigen Weg von der Primärphase des Sozialismus, in der sich die VR China noch befindet [14], zur Endphase des Sozialismus, der ersten Phase des Kommunismus zu gehen.

 

Das Buch von Egon Krenz belegt genau dies...

 

ANMERKUNGEN

 

[1] Reinhold Andert, Wolgang Herzberg, Der Sturz, Erich Honecker im Kreuzverhör, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, p. 95.

 

[2] Der erste Anschluss war der Beginn der Annexion Österreichs durch Nazi-Deutschland im März 1938. Es ist bemerkenswert, dass auf dem Stimmzettel vom 10. April 1938 steht: „Stimmen Sie der am 13. März 1938 beschlossenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich zu und stimmen Sie für die Partei unseres Führers Adolf Hitler? Die Nazis und ihre Nachfolger sprachen heute von Wiedervereinigung und nicht von Annexion. Es ist wahr, dass der erste Anschluss in der österreichischen Bevölkerung eine viel größere Unterstützung fand als in der DDR gegen den zweiten Anschluss..... Siehe über den zweiten Anschluss: VLADIMIRO GIACCHE, Le Second Anschluss. Die Annexion der DDR. (Die Vereinigung Deutschlands und die Zukunft Europas), http://editionsdelga.fr/portfolio/vladimiro-giacche/

 

[3] http://a-contre-air-du-temps.over-blog.com/2017/11/texte-integral-du-rapport-de-xi-jinping-au-19e-congres-national-du-pcc.html

 

[4] Egon Krenz, China – Wie ich es sehe, Édition Ost 2018, S. 58 ().

 

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Harich

 

[6] Prokop, Siegfried (Hrsg.) Die kurze Zeit des Utopie: die „zweite“ DDR im vergessenen Jahr 1989-1990, Berlin 1994.https://www.booklooker.de/B%FCcher/Prokop+Die-kurze-Zeit-der-Utopie-Die-zweite-DDR-im-vergessenen-Jahr-1989-90/id/A01jAU7E01ZZQ

 

Egon Krenz: China als Chance für die Welt – und für realen Sozialismus

Tilo Gräser

China – Wie ich es sehe“ ist der Titel eines Buches, das der letzte DDR-Partei- und Staatschef Egon Krenz kürzlich im Verlag „edition ost“ veröffentlicht hat. Darin widerspricht er dem medial und politisch vermittelten China-Bild in der Bundesrepublik. Krenz hat das Buch am Donnerstag in Berlin vorgestellt. Danach hat Sputnik mit ihm gesprochen.

China liefert ein Beispiel, wie gesellschaftliche Probleme so gelöst werden können, dass alle Bürger etwas davon haben. Das hat Egon Krenz (Jahrgang 1937), letzter SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzender, in einem Interview am Mittwoch in Berlin erklärt. Er stellte in der Ladengalerie der Tageszeitung „junge Welt“ sein neues Buch „China – Wie ich es sehe“ vor. Darin berichtet er von seinen insgesamt sechs Besuchen im „Reich der Mitte“ und seinen Eindrücken.

Mit dem Buch wendet er sich gegen die herkömmliche Darstellung Chinas in deutschen Medien. Diese seien immer noch antikommunistisch eingestellt und würden deshalb kein realitätsgerechtes Bild der chinesischen Entwicklung wiedergeben, so Krenz. Er machte das an verschiedenen konkreten Beispielen deutlich. Und: China wolle nicht die Weltherrschaft, wie ihm im Westen unterstellt wird. Es wolle dagegen in Zusammenarbeit mit den anderen Staaten die gemeinsamen weltweiten Probleme lösen, zum Nutzen aller.

Nach der Buchvorstellung hat Sputnik bei ihm nachgefragt:

Herr Krenz, wie oft waren Sie in China? Und wie sehen Sie China?

Insgesamt war ich sechs Mal in China. 1989, zum 40. Jahrestag der Volksrepublik, habe ich die offizielle Staatsdelegation der DDR geleitet. Damals hatte ich sehr interessante Gespräche mit Jang Zemin und Deng Xiaoping. Jang Zemin zitierte frei aus dem Kopf in deutscher Sprache die letzten Worte von Goethes Faust, als ich in sein Büro kam. Er erinnerte sich daran, dass er als Minister einmal Weimar besucht hatte und war angetan von dem Antifaschismus der DDR. Er hat darauf hingewiesen, wie unterschiedlich Traditionen sein können, gerade in Weimar, der Stadt der Klassik mit Goethe und Schiller, und andererseits Buchenwald – die Barbarei des Faschismus.

Nach der sogenannten Wende und meiner Haftentlassung 2003 bin ich inzwischen einige Male in China gewesen, meist auf Einladung der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, einmal vom Institut für strategische Forschungen. Natürlich wollten die chinesischen Freunde vor allem wissen, wie ich den Untergang der Sowjetunion bewerte. Und welche Fehler dazu geführt haben, dass es die DDR nicht mehr gibt. Ich habe das Gefühl, dass die chinesische Führung, die chinesische Kommunistische Partei und die verschiedenen Institutionen sehr gründlich darüber nachdenken, was man aus dem Untergang der UdSSR lernen kann.

Wie sehen Sie China heute, so wie Sie es kennengelernt haben?

Ich sehe China vor allem als ein sozialistisches Land. Oder besser gesagt: als ein sozialistisches Land, das auf dem Wege ist, den Sozialismus aufzubauen. Ich war im Lande, als der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas stattgefunden hat (Herbst 2017 – Anm. d. Red.), und konnte so die weitreichende Programmatik der Partei kennenlernen. Sie haben sich das Ziel gestellt, bis zum Jahr 2049, dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, ein starkes sozialistisches Land zu sein, in dem die Menschen gern leben und es den Menschen gut geht. Dieses Ziel finde ich großartig. Ich empfinde die ganze Entwicklung in der chinesischen Volksrepublik als Beweis dafür, dass der Untergang der Sowjetunion 1991 noch nicht das Ende des real existierenden Sozialismus gewesen ist.

Die damalige Rechnung „Der Sozialismus ist kaputt, Jesus lebt und der Kapitalismus ist das Endziel der Geschichte“ ist ohne die Volksrepublik China gemacht worden. Für mich ist China eine Hoffnung. Ich denke, im 21. Jahrhundert wird keiner umhinkommen, auf China Rücksicht zu nehmen. Ich freue mich persönlich sehr, dass es eine gute Zusammenarbeit zwischen der Russischen Föderation und der Volksrepublik China gibt. Die Zusammenarbeit von China und Russland auch im Uno-Sicherheitsrat gibt sehr starke Impulse für die Erhaltung des Friedens. Ich werde von mir aus weiterhin die Entwicklung in der Volksrepublik verfolgen und glaube sehr daran, dass das ein erfolgreiches sozialistisches Aufbauwerk ist.

Sie haben eine andere als die übliche westliche Sicht auf die Entwicklung in China. Wie würden Sie diesen Unterschied sehen? Wie beurteilen Sie die westliche, vor allem Mainstream-Medien-Darstellung der Entwicklung in China?

Für die Beurteilung Chinas, wie auch die nachträgliche Beurteilung der DDR, gibt es ein Erklärungsmuster im Westen: Das ist der Antikommunismus. Und nicht nur Antikommunismus. Es ist auch die Entstellung von Fakten. Das China, das ich erlebe, ist ein ganz anderes als das, worüber hier in den Medien berichtet wird. Und es ist immer wieder der Versuch, sich selber zu erhöhen, indem man andere erniedrigt. Ich finde die Sicht, die Deutschland auf China hat, nachteilig für Deutschland. Deutschland nimmt sich selber die Möglichkeit, Erfahrungen aus China für seine eigene Entwicklung zu bedenken.

Sie werden immer wieder konfrontiert mit Ihrem Besuch 1989 in China, in Peking – das wird immer in Verbindung gesetzt mit den damaligen Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Ihnen wird nachgesagt, Sie hätten für die DDR quasi eine „chinesische Lösung“ für möglich gehalten. Was sagen Sie jemandem wie mir, der Sie daran erinnert?

Ich war am 1. Oktober 1989 zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik in Peking. Ich habe damals die Staatsdelegation der DDR geleitet. Dieser Besuch war begleitet von einer Kampagne der bundesdeutschen Medien gegen mich, dass ich angeblich mit einer Gewaltlösung für die DDR gedroht hätte. Dagegen habe ich geklagt, und die Fakten sprachen für mich. Das Landgericht Hannover hat einen Beschluss gefasst und diese Äußerungen, die gegen mich getätigt waren, als ehrverletzend bezeichnet. Im Übrigen hat es damals in der Volksrepublik China wie auch später nie Gespräche darüber gegeben, wie man Gewalt anwendet – sondern eher darüber, wie man Gewalt verhindern kann.

Sie haben vorhin in der Buchvorstellung erwähnt, dass das Ihnen gegenüber in Peking so gesagt wurde.

Ja, als ich in Peking war, haben wir Gespräche geführt, wie man den Sozialismus gestalten kann, nicht wie man Gewalt gegen das Volk führt.

Wie sehen Sie die Idee des Sozialismus in der heutigen Zeit? China ist ein Beispiel, dass es die Versuche gibt, das weiter zu gestalten. Wie sehen Sie die Chancen angesichts der globalen, internationalen Entwicklung?

Das ist ein Prozess. Ich denke, jene, die den Sozialismus wollen, sollten sich nie missbrauchen lassen gegen Staaten, die das sozialistische Ziel haben. Neben China gibt es Entwicklungen in Vietnam, in Laos, auf Kuba, und natürlich auch Anstrengungen in Venezuela, einen anderen Weg zu gehen. Die Anstrengungen, die sozialistische Idee am Leben zu erhalten, sind vielfältig. Ich gebe das Ideal des Sozialismus nicht auf. Die Idee des Sozialismus ist genauso schlecht totzukriegen wie die Idee des Christentums, die ja nun über 2000 Jahre alt ist und trotzdem immer wieder lebendig wird, obwohl es Kämpfe gegeben hat und obwohl es auch Verbrechen gegeben hat. Aber die Ideale der Menschen sind eben stark. Ich glaube, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort der Geschichte ist, sondern dass der Sozialismus eine Chance hat. Wann und wie – das ist eine ganz andere Sache.

Dieses Jahr wird in verschiedenster Weise der 200. Geburtstag von Karl Marx begangen. Ich habe vor kurzem wieder dieses Plakat gesehen, das in der Endzeit der DDR auftauchte und wo unter Marx sinngemäß steht: „Entschuldigt, Genossen, das war ein Irrtum“. Wie sehen Sie das?

Ich denke, das ist das Plakat, wo steht: „Es war halt nur so eine Idee.“ Ich finde, Marx ist wieder aktuell. Selbst bürgerliche Ökonomen kommen nicht umhin, sich mit dem „Kapital“ zu beschäftigen. Ich habe bei Intellektuellen gelesen, das kommunistische Manifest sei hervorragende Prosa. Also Marx ist nicht totzukriegen, Engels auch nicht – und ich glaube, auch Lenin nicht.

Ich sage immer: Man kann nicht Marx, nicht Engels und auch nicht Lenin dafür verantwortlich machen, dass die nachfolgenden Generationen es nicht geschafft haben, ihre Werke ins Leben umzusetzen. Kein Mathematiker käme auf die Idee, der Mathematik die Schuld zu geben, wenn er sich verrechnet hat. Wenn wir uns geirrt haben, dann kann man nicht Marx die Verantwortung dafür geben. Im Gegenteil: Ich finde, der 200. Geburtstag sollte Anlass sein, Marx wirklich zu lesen. Ich bemängele, dass man viel über Marx liest, aber leider zu wenig Marx selbst.

Egon Krenz: „China – Wie ich es sehe“; Verlag edition ost 2018

155 Seiten, broschiert; ISBN 978-3-360-01885-4; 12,99 Euro

https://de.sputniknews.com/politik/20180428320504007-china-sozialismus-egon-krenz/

Das vollständige Interview mit Egon Krenz zum Nachhören: https://de.sputniknews.com/politik/20180428320504007-china-sozialismus-egon-krenz/

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